DIE SECHS FINALISTEN
IM VON DER VICK-STIFTUNG ORGANISIERTEN WETTBEWERB
UM DEN BESTEN BULGARISCHEN ROMAN 2005
Anmerkungen von Vladimir Trendafilov – Mitglied der Jury 2005
Emil Andreev
Staklenata reka (Der Glasfluss)
Verlag Faber

Hier treffen sich Europa und Bulgarien auf bulgarischem Boden. Ein Sommer voll ungezügelter Leidenschaft, Gedanken über das Leben und wissenschaftlicher Erkenntnisse. Eine französische Geschichtsstudentin kommt nach Bulgarien, um Informationen über die Bogomilen zu sammeln, und wird plötzlich in eine Reihe rätselhafter Ereignisse und schließlich auch in ein „Liebesvieleck“ hineingezogen. Die Haupttriebfeder der Geschehnisse und erwachenden Leidenschaften ist der geheimnisvolle Schriftsteller und Eremit Victor Markov. In dessen wahren Selbst treffen Körper und Seele unablässig rastlose Verabredungen, was ihn für die Weiblichkeit sowohl unwiderstehlich als auch unerreichbar macht. Eine spiritistische Sitzung mit dem Geist eines italienischen Meisters führt zur Entdeckung einer Truhe, die das Geheimnis der Bogomilen enthält. In diesem Roman sind Frauen und wissenschaftliche Fakten gleichermaßen rätselhaft. Den alten Legenden wird viel mehr Vertrauen entgegengebracht.
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Daniel Apostolov (Rogger Dojh)
Sezon za lov na divi kutchki (Saison für die Jagd auf wilde Hündinnen)
Verlag Lik

Für manche Menschen ist die Großstadt ein Gefängnis, für andere ein Inferno. Für Daniel Apostolov ist sie eine Kombination aus Universität und Jagdrevier. Er erzählt uns die Geschichte eines jungen Helden unserer Zeit, der die Welt vor dem Zeitalter der Elektronik gar nicht kannte und der seine Initiation über intime Chat-Room-Beziehungen erfährt und so ins Erwachsenenalter mit all seinen Spielen eintritt. Ein ernster Roman, der uns lehrt, wie nützlich es ist, das Buch des Lebens zu lesen, sofern man sich nicht ablenken lässt und keine Seiten überspringt. Eine menschliche Geschichte über die Leidenschaften und Missgeschicke der heutigen Jugend. Eine Geschichte über die Lebensweise einer Generation, in der Seelen wie Körper und Körper wie Seelen miteinander kommunizieren. Und man kann nicht immer feststellen, was wichtiger ist.
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Angel Wagenstein
Sbogom, Chankhai (Auf Wiedersehen Shanghai)
Verlag Kolibri

Der dritte Teil der Trilogie nach Der Pentateuch von Isaak und Fern von Toledo. Ein Epos über das Schicksal von ca. zwanzigtausend Juden, die Ende der 30er Jahre aus den Konzentrationslagern der Nazis flüchten und im fernen China Zuflucht finden. Wir lernen die Nöte einer deutschen Schauspielerin und eines österreichischen Geigenspielers kennen, die in dieser irrsinnigen Epoche feststellen, dass sie nicht „Leute wie du und ich“, ganz gleich, wie gebildet oder kreativ sie sein mögen, sondern „ein Niemand“ sind – die Juden. Der Nationalsozialismus erweist sich als Teil des Problems, ein unleugbarer Teil, aber doch nur ein Teil. Wenn die Deutschen unter Hitler grausam waren, weil sie die Juden verfolgten, wie sollen wir dann eine Welt nennen, die dem Großteil der Flüchtlinge die rettende Zuflucht verweigerte? Besteht die Möglichkeit, dass die Welt wieder „unsere“ wird? Sei es auch nur für die Überlebenden. Selbst nach dem Sturz des Naziregimes. In diesem Roman ist der Protagonist die Geschichte selbst und die Kulisse eine Welt, auf die wir niemals stolz sein können.
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George Grozdev
Pliatchka (Beute)
Verlag Balkani

Eine ganz normaler Jagdausflug bringt eine Reihe merkwürdiger Charaktere und Schicksale zusammen. Die Geschichte entwickelt sich fernab vom normalen Lauf des städtischen Lebens unserer Tage. Da gibt es tiefe Wälder, ein abgelegenes, fast verlassenes Dorf, eine Psychiaterin und mehrere ihrer Patienten, eine amerikanische Touristin, die zum Jagen nach Bulgarien gekommen ist, und den Protagonisten, einen Jäger, der, genetisch bedingt, nur am Rande der Gesellschaft leben kann. Eigentlich befinden sich alle am Rande der Gesellschaft – manchmal auf der einen Seite, manchmal jenseits des Abgrunds. Beute ist eigentlich ein Schäferroman, der die verlorene Verbindung zwischen Mensch und Natur glorifiziert. Aber er beklagt diesen Verlust nicht. Im Gegenteil, er glaubt an die magnetische Anziehungskraft, die den Menschen früher oder später mit seinem innersten Wesen verbinden wird. Ein sehr bulgarischer Roman.
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Atanas Nakovski
Obarnat sviat (Verkehrte Welt)
Verlag Library 48

Eine Mischung aus allegorischer Groteske und Sozialsatire. Eine langsame, detailreiche Erzählung, durchdrungen von verbitterter Menschlichkeit. Eine weitere bulgarische Version des vierten Teils von Swifts Gulliver – nach Eine Reise in Wibrobia von Emil Manov. In der Welt von Swift erweisen sich Pferde bekanntlich als vernünftigere und sanftere Geschöpfe als der Mensch. In Nakovskis Welt sind es die Hunde, die dem Menschen überlegen sind. Eine Besonderheit dabei ist, dass die Handlung, zumindest zum größten Teil, auf das Stadtzentrum von Sofia beschränkt bleibt. Mit den Stilmitteln der modernen Öko-Parabel, garniert mit der Mutlosigkeit der Antiutopie und einzigartig verflochten mit der traditionellen Metapher der Jagd, erzählt uns der Autor von den Risiken eines Hundelebens in den Straßen der heutigen kaltherzigen Großstadt.
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Milen Ruskov
Djobna entsiklopediia na misteriite (Eine Enzyklopädie der Rätsel im Taschenformat)
Verlag Janette 45

Ein Buch über das, wonach man ständig sucht und woran man sich nie ganz erinnern kann. Die Kulisse des Romans ist nichts Geringeres als das esoterische Wissen über die Welt selbst, und der Protagonist ist eine Mischung aus Autor und Jedermann. Wäre sein Leben anders verlaufen, hätte er Schmetterlinge oder Briefmarken gesammelt. In diesem Fall ist er ein Leser. Allerdings kein normaler Leser, sondern ein grenzenloser – ein Mensch, der Bücher um ihrer selbst Willen liebt, einer Jünger des schriftlichen Wissens, ein Sammler von Fakten, die sich als Rätsel tarnen, ein Detektiv in Sachen Bedeutungen und Symbole. Wenn Sie glauben, dass sich in dieser Enzyklopädie keine weiteren speziellen Fakten aus dem Reich des Okkultismus und Mystizismus finden lassen, dann irren Sie sich wahrscheinlich. Sie müssen nur umblättern und auf der nächsten Seite nachsehen.
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